Die einzige Wahrheit

In komplexen Produktionsumgebungen wie Raffinerien oder Chemieanlagen mit vielen Datenspeichern werden Informationen häufig fragmentiert und isoliert, weshalb sich nur schwer feststellen lässt, welche Informationen nützlich und vertrauenswürdig sind.

In einer volatilen Branche wie der Prozessindustrie ist der sofortige Zugang zur einzigen Wahrheit ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal, um eine agile Reaktion auf Marktveränderungen und neue Chancen zu ermöglichen. Eine erfolgreiche Geschäftsstrategie sollte als Roadmap dienen, um Agilität in einem Umfeld kontinuierlicher Marktveränderungen zu gewährleisten. Eine wichtige Grundlage für Agilität ist die digitale Transformation.

Herausforderungen der digitalen Transformation

Viele Unternehmen tun sich schwer, sich den Herausforderungen der digitalen Transformation zu stellen, da ihnen nicht klar ist, was digitale Transformation wirklich bedeutet und wo sie ansetzen sollen. Ein wichtiger Eckpfeiler der digitalen Transformation ist die Integration von Geschäftsumgebung und Produktionsumgebung.

Der Übergang zur Konversion, Abstimmung und Integration der Informationstechnologie (IT) und der Betriebstechnik (OT) stellt keine leichte Aufgabe dar und richtet sich danach, ob Sie in einer Brownfield- oder Greenfield-Umgebung arbeiten. Die größte Herausforderung bei einer Systemkonversion (Brownfield) liegt in der bestehenden Infrastruktur und den Geschäftsprozessen; bei einer Neuimplementierung (Greenfield) ist diese meist das Fehlen eines Geschäftsinhabers für die OT und ein nicht klar definierter Geschäftsprozess beim Anlagenbau.

Abb. 1. OT-Geschäftsprozesslebenszyklus

Abb. 1. OT-Geschäftsprozesslebenszyklus

Obwohl die Vorteile der digitalen Transformation und Integration hinlänglich bekannt sind, gibt es bei einer großen Anzahl von Greenfield-Projekten keinen IT/OT-Integrationsplan. Anstatt einen Plan mit einem Geschäftsinhaber zu erstellen, warten Unternehmen zu lange mit der Planung. Dies führt zu einer fragmentierten oder gänzlich fehlenden Integration bei der Inbetriebnahme von Anlagen. Der Integrationsplan wird oftmals zurückgestellt, da Prozesse entwickelt werden, die sich auf das konzentrieren, was heute benötigt wird, und nicht auf das, was ein Unternehmen morgen brauchen könnte.

Um die Integration zu realisieren, ist eine vollständige Abstimmung erforderlich - vom Vorstand über alle Ebenen des gesamten Unternehmens hinweg. Ohne das Engagement des Vorstands und der Aktionäre, die die Unternehmensstrategie verstehen, lassen sich nur sehr schwer Erfolge erzielen. Die Integration ist vielmehr eine organisatorische als eine rein technische Herausforderung.

Integration bedeutet Informationen zusammenzuführen und zwischen Datenspeichern, Anwendungen, Geschäftsprozessen und Unternehmensbereichen auszutauschen. Ausgangspunkt ist eine umfassende Definition der Geschäftsprozesse für die IT- und OT-Domäne. Sind die Geschäftsprozesse einmal klar definiert, erfolgt die Integration von Informationen, Anwendungen und Technologie im Handumdrehen. Bei der Integration wird ein gemeinsamer Katalog von Standards und Plattformen für IT und OT erstellt, was die Kosten in vielen Bereichen des Software- und Hardwaremanagements senkt und die Risiken durch menschliches Versagen deutlich reduziert.

Abb. 2. Definition des OT-Geschäftsprozesslebenszyklus’

Abb. 2. Definition des OT-Geschäftsprozesslebenszyklus’

Jeder Integrationsprozess beginnt mit dem Bewusstsein für die Probleme innerhalb eines Unternehmens. Probleme können das Fehlen eines Plans, das Fehlen eines Geschäftsinhabers oder eine zu große Anzahl von Vorfällen sein, die durch menschliches Versagen verursacht werden.

Dieses Bewusstsein wird durch verschiedene Workshops mit dem Management und den einzelnen Geschäftsinhabern der IT- und OT-Bereiche geschaffen, um die Geschäftsprozesse besser zu verstehen und die Zusammenarbeit und Integration zu fördern.

Workshops bieten dem Management, den Geschäftsinhabern und den Betriebsstätten die Möglichkeit, sich aktiv an der Definition, der Formulierung von Anforderungen und der Integration von Geschäftsprozessen für die verschiedenen Unterbereiche zu beteiligen. Die Ergebnisse der Workshops vertiefen das Verständnis für die Integrationsherausforderungen, bieten aber auch Gelegenheit für gemeinsame Problemlösungen.

Master Plan

Im nächsten Schritt wird ein Masterplan für die IT/OT-Integration erstellt. Dieser Plan dient als Unternehmenskonzept für die IT/OT-Integration und steht in direktem Zusammenhang mit den Kerngeschäftszielen und der Planung. Er legt die Aufgaben für die einzelnen Unterbereiche fest, einschließlich der Integration zwischen der IT- und der OT-Domäne.

Jede einzelne Anwendung in einem Unterbereich spielt für verschiedene User eine wichtige Rolle. In der Regel geht es bei einer Einzelanwendung um die Verarbeitung verschiedener Arten von Daten. Während ein Prozessleitsystem überwiegend Echtzeitdaten aufbereitet, verarbeitet eine Supply-Chain-Anwendung wie die Terminplanung hauptsächlich Daten in Tagen, Wochen oder Monaten. Es sind die unterschiedlichen Datentypen, die eine Integration so wichtig machen, weil die einzelnen Anwendungen oft Input von anderen Anwendungen benötigen.

Abb. 3. OT-Informationsdiagramm

Abb. 3. OT-Informationsdiagramm

Teil des Masterplans ist die Entwicklung des Business Case. Die Ergebnisse der diversen Workshops liefern auch Input für den Business Case in Form von Kapitalrentabilität (ROI) und Risikominderung. Der Grundpfeiler des Business Case ist der Vergleich zwischen manuellen Operationen (hauptsächlich manuelle Transaktionen zwischen Anwendungen) und integrierten Operationen (z.B. Transaktionen mit Hilfe von Middleware-Software). In den Workshops werden die Folgen eines fehlenden sofortigen Zugriffs auf Informationen oder von Fehlern infolge manueller Bedienung als Input für den Business Case erörtert.

Bevor das Unternehmen Anbieter um Angebote für eine integrierte Lösung ersucht, muss es einen weiteren Schritt unternehmen und den Masterplan in „User Requirement Specifications“, d.h. einen Anforderungskatalog für die einzelnen Anwendungen, die Integrationsstrategie und die Projektdurchführungsstrategie übersetzen. Ohne User Requirement Specifications ist es den Anbietern einfach nicht möglich, ein präzises Angebot zu unterbreiten. Bei einem großen Projekt kann die Anzahl der User Requirement Specifications beträchtlich sein, was das Unternehmen bei der Planung berücksichtigen muss. Vom ersten Bewusstseinsworkshop bis zur Projektvergabe kann es 18 Monate dauern. Wenn ein Unternehmen also zu lange wartet, kann es die Chance der IT/OT-Integration verpassen. Unternehmen müssen sich darüber im Klaren sein, dass die IT- und OT-Domäne als ein Ökosystem zu betrachten ist, in dem alles mit allem zusammenhängt. Durch Integration und die Schaffung einer „Single Truth“ können Unternehmen nicht nur schnell auf Störungen reagieren, sondern sie auch vorhersehen, „Was-wäre-wenn"-Szenarien erstellen und ihre Organisation umgehend an veränderte Bedingungen anpassen.

Abb. 4. Projektphasen für ein integriertes Produktionsmanagementsystem

Abb. 4. Projektphasen für ein integriertes Produktionsmanagementsystem


Marcel Kelder

Marcel Kelder is Director of Advanced Solutions Yokogawa Europe. Yokogawa’s Advanced Solutions group provides solutions focused on reducing operational risks (safety & security) and delivering  efficiency and overall plant performance through the use of innovative technologies and services. 

His Yokogawa career spans 30 years with experience across all aspects of Plant Automation. Marcel leads the European Strategy for the development and implementation of solutions in the areas of Digital Transformation, IIoT, IT/OT convergence and Operational Technology Security. Marcel was instrumental in defining Yokogawa’s Plant Security program which is supporting organizations in the energy supply chain to meet their regulatory objectives and reduce operational technology security risks.